Zeitgenössische Kunst im Dorfladen
Main-Echo Pressespiegel

Zeitgenössische Kunst im Dorfladen

Kultur: Der Wiesener Kunstverein verlegt seine Sommerausstellung in Geschäfte, Vitrinen und ins Rathaus des Spessartdorfs - Auch der Skulpturenweg wurde erweitert
Wiesen  An­ja Pist­ner blickt ein we­nig skep­tisch auf die glän­zen­den Ke­ra­mik­schne­cken, die seit ei­ni­gen Ta­gen die Wurs­taus­la­ge des Wie­se­ner Dor­f­la­dens be­völ­kern. Beim Be­die­nen müs­se man nun noch et­was mehr auf­pas­sen als sonst, sagt die Dor­f­la­den-Mit­ar­bei­te­rin.

Denn die zerbrechlichen glasierten Tier-Figuren der jungen Künstlerin Dominika Bednarsky, die sich zwischen Wurst-Konserven und Aufschnitt tummeln, seien hochwertige Arbeiten. Bei der Frage, was sie von der Schneckengesellschaft hält, muss Anja Pistner schmunzeln. Kunst sei halt mehr als ein Bild an der Wand oder eine Skulptur auf dem Sockel, so die Wiesenerin.Die Arbeit »Snails« der jungen Absolventin der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) Dominika Bednarsky im Dorfladen ist Teil der Sommerausstellung »Nicht Fisch, nicht Fleisch« des Wiesener Kunstvereins. Erstmals begibt sich der Verein mit seiner Jahresausstellung aus den Mauern des Schlosses heraus, erläutert Kunstvereins-Vorsitzender Friedrich Gräfling. Die Schau der 1994 geborenen Bednarsky sei zugleich eine zeitlich begrenzte Erweiterung des Wiesener Kulturwegs mit seinen nun fünf festen Stationen. Bis zum 26. September sind Bednarskys Skulpturen in Geschäften und Vitrinen aber auch im Büro des Wiesener Bürgermeisters zu sehen. Auch Corona sei ein Grund für die Verlagerung der Ausstellung in den öffentlichen Raum gewesen, sagt Gräfling. Viele der Ausstellungsorte sind von außen einsehbar.

Schon die hintersinnige Platzierung der Keramik-Plastiken ist anregend. Nicht nur die Schnecken-Bande im Dorfladen sorgt für kleine Irritationen im Dorfalltag.

Die feingliedrigen, züngelnden Grashalme in der mehrteiligen »Rasen«-Installation im Schaufenster eines Fachgeschäfts für Mobil-Elektronik in der Hauptstraße 28 erinnern an einen lodernden Flächenbrand. Eine getöpferte Spargel-Stange in der Vitrine des Raucherclubs macht deutlich, wie sehr das Stangengemüse einer gedrehten Zigarre ähnelt.

Visuelle Parallelen werden auch im Schaufenster der Bäckerei Büdel einige Häuser weiter ausgelotet: Die dort zwischen Broten und Brötchen drapierten Keramik-Sportbälle wirken wie eine schlüssige Erweiterung der Backwaren-Auslage.

Beim Dorfmetzger ist trotz der aktuellen Straßenbaustelle vor der Haustür um die Mittagszeit viel los. Vor allem Handwerker nutzen die Mittagszeit, sich mit einer warmen Vesper einzudecken. Im Geschäft, gegenüber der Wurstauslage, thront auf einem Regal mit Tagesangeboten Bednarskys fußballgroße Schweinekopf-Skulptur, die von einer Ananas gekrönt wird.

Nicht ganz so einfach ist es, einen Blick auf den »Männerblumenstrauß« zu erlangen. Die Skulptur auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Willi Fleckenstein im Rathaus kann nur während der Sprechstunden des Rathaus-Chefs besucht werden. Ein Ersatz ist die »Snap Competition«, der frei einsehbare Strauß fleischfressender Pflanzen und Insekten im Schaufenster der Lotto-Annahmestelle in der Hauptstraße.

Neben der Sommerausstellung hat der Wiesener Kunstverein auch seine dauerhaften Skulpturenweg-Stationen erweitert: Es sind zwei Arbeiten, die zuletzt auf internationalen Ausstellungen zu sehen waren, und die nun einen festen Platz im Spessart bekommen, erläutert Gräfling. Eine Arbeit heißt »Wohnen mit Verkehrsanbindung« von Michael Sailstorfer und besteht aus einem Wartehäuschen mit Haltestellenschild abseits jeglicher Busrouten in der Wiesener Dr.-Frank-Straße. Das Tiny House der besonderen Art ist mit Bett, Küche, Tisch, Stuhl, Toilette und einer Lampe ausgestattet und lässt sich durchaus als ironischer, kritischer Kommentar auf die ÖPNV-Anbindung des ländlichen Raums lesen.Mit Sailstorfer ist der Wiesener Kunstverein schon lange verbunden. Wiederholt war der bayerische Bildhauer und Installationskünstler in Ausstellungen im örtlichen Schloss zu Gast. 2015 sorgte Sailstorfer mit der Performance »Tränen« für Aufsehen, der weit beachteten Abrissaktion eines Wiesener Hauses und deren Dokumentation. Die tränenförmigen Abrissbirnen in der Frank-Straße sind heute Teil des Kulturwegs. Seit 2016 ist Sailstorfer auch am Sängerweg mit der Arbeit »Mückenhaus« präsent, einem Straßenlaternen-Schirm aus Alu und Moskitonetz in Form eines Hauses. Eine weitere neue Station des Skulpturenwegs ist auch die »Weather Flag« des Göttinger Konzept- und Aktionskünstlers Christian Jankowski vor der alten Dreschhalle. Die Polyester-Flagge zeigt die Abbildung eines Mannes, der sich an zwei Füße klammert. Das Motiv erschließt sich freilich nur, wenn der Wind weht und die Flagge am Mast flattert. Kunst ist eben nicht nach Belieben jederzeit verfügbar. Auch das ist eine Lehre des Kulturwanderwegs, der einen sommerlichen Ausflug in den Spessart lohnt. bPlan mit allen Kunstweg und Sommerausstellungs-Stationen sowie weitere Infos unter kunstverein-wiesen.de

Hintergrund: Kunstverein Wiesen

Der Kunstverein Wiesen wurde 2014 von Johanna und Friedrich Gräfling gegründet. Er versteht seine Ausstellungen als »innovative Plattform für zeitgenössische Kunst und deren Diskurs«, heißt es in der Selbstbeschreibung des Vereins. Ein Ziel sei es, »durch Kunst und Kultur Netzwerke zwischen dem Hinterland und der Metropole zu knüpfen«. Seinen Sitz hat der KuWi im Schloss Wiesen. Seit 2014 bietet der Wiesener Kunstverein jährlich Wechsel-Ausstellungen im Schloss, meist Gruppenausstellungen internationaler Künstler, aber auch Solo-Shows. Der Skulpturenweg umfasst derzeit die Stationen »Antibodies« von Markus Kleinfeld vor der Grundschule, das »Mückenhaus« (Sängerweg), »Tränen« und »Wohnen mit Verkehrsanbindung« (beide Dr. Frank Straße) von Michael Sailstorfer und die »Weather Flag« von Christian Jankowski vor der Alten Dreschhalle, Am Berg 4. (ab)

23.07.2021
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